Gebet und Gymnastik
In „Tibet Revisited“ zeigt der Dokumentarfilmer
Manfred Neuwirth, wie sehr sich der kulturelle Konflikt am Himalaya
in den letzten Jahren verschärft hat. Und dabei gelingt ihm wieder
ein unvergesslicher Kinomoment.
Selten, aber doch, gibt es Momente im Kino, die einem unvergesslich
bleiben. So geschehen in „Tibetische Erinnerungen“,
dem Mitte der Neunzigerjahre entstandenen Reisejournal von Manfred
Neuwirth. Ansichten von Landschaften wechselten mit Impressionen
aus dem Alltagsleben, inklusive einer Szene, in der chinesische
Soldaten in voller Montur eine Demonstration zerstreuen. Dann, mitten
im Film, tauchte wie aus dem Nichts plötzlich das Bild einer
lachend picknickenden Großfamilie auf.
„Tibet Revisited“, die im Frühjahr auf der Diagonale
uraufgeführte jüngste Arbeit des österreichischen
Filmemachers, steht in loser Nachfolge zu dem vor zehn Jahren realisierten
Werk. Der kulturelle Konflikt, das zeigt der neue Film deutlich,
hat sich in der Zwischenzeit durchaus noch weiter verschärft.
„Lhasa“, so Neuwirth im Gespräch, „ist heute
eigentlich komplett chinoisiert, die Tibeter sind da schon eindeutig
in der Minderheit.“ Gleichwohl spürt man in fast jeder
Sequenz immer noch die ungeheure Präsenz des traditionellen
geistigen Lebens. Eine zeigt ein paar Gläubige, die sich auf
dem Heimweg von ihrer Arbeit vor dem einstigen Palast des Dalai-Lama
zum Gebet niederwerfen, derweil auf der Straße, gleich hinter
ihnen, ein steter Fluss aus Passanten und Radfahrern, Mopeds und
Kleinwägen vorüberzieht.
Neuwirth, der beileibe kein Formalist ist, geht in seinen Filmen
dennoch sehr bewusst mit Gestaltungsformen um. „Tibet Revisited“
besteht aus einer Reihe durch Schwarzfilm voneinander abgesetzten
Tableaux vivants, wobei jede der insgesamt 28 mit starrer Kamera
und Einstellungsgröße aufgenommenen Szenen jeweils exakt
drei Minuten dauert. Kommentar gibt es keinen. Während das
Fernsehen unablässig Bilder verschleißt und beliebig
mit Tönen kombiniert, um den Gebührenzahlern seine Interpretation
der Welt gleich mitzuliefern, lässt der Filmemacher die Bilder
und Töne, die er findet, ganz für sich alleine stehen.
Dass sie auch „bestehen“, hängt nicht zuletzt vom
Betrachter ab. Mit einer Radikalität wie sonst nur der amerikanische
Avantgarde-Dokumentarist James Benning setzt Manfred Neuwirth hier
auf eine „Montage der Kontemplation“. Wer sich auf den
Film einlässt, lernt im Kino tatsächlich sehen. Das markiert
auch den wesentlichen Unterschied zu „Tibetische Erinnerungen“,
der noch mit gewissen kleinen Verschiebungen zwischen Bild und Ton
arbeitet. Den quasi unbearbeiteten Sequenzen von „Tibet Revisited“
sind derlei Verschiebungen bereits inhärent, wie das unablässige
Plärren arg lädierter Radiolautsprecher auf den Marktplätzen
oder das Läuten eines Mobiltelefons während eines Gebets
bezeugen. „Wenn so verschiedene Zeiten und Kulturen aufeinanderprallen,
gibt es naturgemäß Entwicklungen, die sowohl vom Bild
wie vom Ton her ungemein spannend sind.“, sagt Neuwirth: „Es
wird zum Beispiel immer lauter. Deswegen sind die Eindrücke
aus dem Großraum Lhasa stärker über die Tonspur
definiert, weil sich die Werbung und mit ihr dieser ‚großstädtische
Sound’ dort schon ganz klar durchgesetzt hat.“
Die vielfältigen Konflikte zwischen traditionell geprägten
Lebensformen und einbrechender Moderne arbeitet der Filmemacher,
gleichermaßen souverän wie subtil, durch die Anordnung
der einzelnen Tableaux heraus; dem Gebet vor dem Palast geht eine
Szene voraus, in der Angestellte eines chinesischen Konzerns in
aller Eile ihre obligatorische Frühgymnastik erledigen. In
den Straßen von Lhasa zeugen Jeans, Coca-Cola und Popmusik
vom Fortschritt der Globalisierung, am Land vor allem neue Fabrikbauten,
befestigte Strassen und ständig wachsendes Verkehrsaufkommen.
Stärker noch sind diejenigen Bilder, die sich nicht ohne weiteres
entziffern lassen. Eines zeigt einen Klostergang, der nur durch
den Gesang eines Mönches aus dem Off überhaupt als solcher
zu identifizieren ist; ein anderes, vollkommen hypnotisches Bild,
zeigt nichts als einen sich gleichförmig drehenden Mahlstein.
Dass es sich dabei um eine archaische Gerätschaft handelt,
der zudem noch eine immense kulturelle Bedeutung zukommt („er
mahlt Gerste, sozusagen das Hauptnahrungsmittel von Tibet“,
so der Filmemacher), braucht man keineswegs zu wissen, damit sich
alle Sinne auf den Rhythmus dieser leiernden Bewegung umstellen.
„Tibet Revisited“ verweigert, wie alle Filme von Manfred
Neuwirth, jede aufgesetzte Didaktik, seine Argumentation ist eine
der Form, der Konzentration, der Poesie. Weder geht es darum, irgendwelche
Thesen zu illustrieren, noch sich selbst als globetrottenden Teufelskerl
in Szene zu setzen. Mit den heimischen Dokumentarfilmboomern hat
sein Werk nur am Rande zu tun, mehr schon mit dem Kino eines Benning
oder Romuald Karmakar.
Mit seiner letzten Sequenz, einer Fahrt über Land, hebt der
Film unerwartet noch einmal völlig ab. Über die Straße,
die im funkelnden Licht des Hochlandes daliegt, donnern ausländische
Schwerlaster heran, während die einheimischen Kleinhändler
mit ihren urtümlichen Gefährten unbeirrt weiter den Straßenrand
entlang tuckern. Ein unvergesslicher Moment.
Michael Omasta, Falter
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