Der zweite Blick |
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Manfred Neuwirth hat in den 70er Jahren mit seiner Arbeit an den bewegten Bildern begonnen und seitdem kontinuierlich in Videoarbeiten, Filmen, multimedialen Installationen und interaktiven Bildsystemen ein integres, engagiertes, dokumentarisches Werk vorgelegt. Zudem ist er eine der singulär wichtigen Personen in der Entwicklung und Weiterführung unabhängiger politischer Medienarbeit in Österreich. (Er ist Gründungsmitglied und nach wie vor aktiver Mitarbeiter der Medienwerkstatt).
Trotz dieser Jahre professioneller Praxis sehen seine Arbeiten weder nach abgeschliffener Routine noch nach routiniertem Engagement aus. Jede neue Arbeit bedeutet ein neues Suchen nach einer adäquaten (Bild)Form und einer neuen Möglichkeit, (Film)Aussagen über ein Problem, eine Situation zu versuchen, die ihm nahe gehen. In jedem Film ist eine spezifische formale Grammatik entwickelt.
Die Filme von Manfred Neuwirth sind immer auch präzise Versuchsanordnungen, für den Versuch Bilder zu finden, zum Sehen aufzufordern. Vielleicht wird das in seiner bisher letzten Filmarbeit: „Tibetische Erinnerungen”(1995) besonders deutlich (aber diese formal innovative Strategie ist auch in seinen früheren Filmen zu entdecken): „Tibetische Erinnerungen” besteht aus 35 Einstellungen auf den Alltag in einem fremden Land. Alle Einstellungen sind gleich lang, die Bilder in Zeitlupe verlangsamt, die Töne asynchron in, normalen Hörfrequenzen. Das sind 35 (Film)Blicke, die jenseits touristischer Neugier die Distanz (und den Respekt) dem Fremden gegenüber wahren. Aber das sind offensichtlich auch Blicke, die eingeladen sind, zugelassen zum Schauen, weil sie weder voyeuristisch sind, noch das spektakuläre suchen, sondern auf Gesichtern ruhen, Gesten, Alltagsgegenständen, Plakaten und Gebetsfahnen. Die streng durchgehaltene Strukturierung zwischen Blickzeit und Hörzeit schafft einen Zwischenraum (ermöglicht einen zweiten Blick), in dem sich die Konzentration und die Fragen der Zuschauer festmachen können. Kein Blick ist ein fertiges Statement, sondern nur Detail eines Zeitsegments, das aus dem Alltag herausgenommen ist, mit der Stoppuhr festgelegt, aber trotzdem ganz offen in seiner Dauer. Der Film beginnt mit einem kurzen Prolog, einer Sequenz von der gewaltsamen Festnahme tibetischer Mönche durch die chinesische Polizei. Im weiteren Film wird dann weder argumentiert noch erklärt, sondern es gibt diese Bilder auf Menschen und eine Kultur im Wandel, die auf sanfte, fast liebevolle Art zu einem Bekenntnis für ein unabhängiges, glückliches Leben werden. (Der Widerstand wird gleichsam ins filmische Material aufgenommen - Constantin Wulff).
Dieser Bezug zum gelebten Leben, zu den Details des gewöhnlichen, (die doch das eigentlich politische ausmachen), zeichnet auch die anderen Dokumentarfilme von Manfred Neuwirth aus. Es gibt weder Polemik noch Agitation in Bildauswahl oder Montage, sondern intensives Umkreisen eines Sachverhaltes durch Lange Gespräche aus vielen Perspektiven und in ungewöhnlich genau gewählten Kadrierungen. Der Film zum Thema Aids z.B. „Vom Leben Lieben Sterben - Erfahrungen mit Aids” (1992/93) spricht über einen fast „normalen” Umgang mit der Krankheit, der sie aus dem Medienlärm zurück in den gelebten Alltag bringt. Und immer sind es zusätzlich zu den (ethischen) Regeln der „oral history” auch rein formale Bildentscheidungen, die dem Publikum Seh- und Denkraum eröffnen. Der Film über den Truppenübungsplatz Allentsteig „Erinnerungen an ein verlorenes Land” (1988) füllt den weißen Fleck auf der Niederösterreichischen Landkarte mit einer Stimmenvielfalt von Lebensgeschichten, die so alltäglich von Verlust und Überlebensstrategien erzählen, daß sich ein außergewöhnlich komplexes Spektrum für die eigene ,Anschauung' und Meinungsbildung ergibt. viele Menschen in der Region haben diesen Film sehen können. Und sie haben eben nicht nur eine sachkundige Aufarbeitung eines politischen Skandals erfahren, sondern sie haben in Ruhe zuhören können, abwägen, vergleichen. Die Denkprozesse der Zuschauer haben in den Filmbildern Platz. Die Bilder sind offen, undogmatisch. Der Filmemacher anerkennt diejenigen, mit denen er spricht (und wird von ihnen anerkannt), und er respektiert sein Publikum.
Zur Charakterisierung der Produktion von „Tibetische Erinnerungen” hat Manfred Neuwirth folgende Stichworte gewählt: „Alltägliches, das unglaubliche Licht, die Freude am gewöhnlichen, der zweite Blick, die Liebe zum Detail, Erinnerungen.” Diese Begriffe können auch für seine anderen Arbeiten stehen. Der zweite Blick bedeutet auch: das bewußte selbstreflexive Eingreifen der Kamera, des Filmemachers, der durch seine Sehweise die Realität nicht zu verdoppeln versucht, sondern sie darstellt.
Birgit Flos, Katalog Kulturpreisträger des Landes N.Ö.1997