Digitallandschaft mit Einzelhändlern |
Persönliche Montagen zur Entwicklung der dokumentarischen Film/Videoästhetik
gemeinsam mit Gerda Lampalzer
Montage 1: Alltägliche Fernsehbilder
Am 5.2.88 läuft in der Zeit im Bild 2 (Informationssendung des österreichischen Fernsehens) ein Bericht über Äthiopien.
Stadt | Hügel | Menschen- gruppe |
Menschen- gruppe |
Gebirge | Flug- aufnahme |
---|
Kommentar: Koren, eine Stadt im Norden Äthiopiens. das belebte Kleinstadtleben täuscht. Koren ist in den letzten Monaten für Tausende zur letzten Zuflucht geworden. Getrieben von Hunger, von Krankheiten und von unvorstellbarem Elend strömen sie in dieses Auffanglager der Vereinten Nationen. Der mühsame Weg über die Berge dauerte oft wochenlang.
Flug- aufnahme |
Flug- aufnahme |
Dorf | Menschen- gruppe |
Mutter mit Kind | Hände |
---|
Die Gebirgsregionen der Provinzen Eritrea, Wolo und Tigris sind über Jahrhunderte hinweg ökologisch ausgebeutet worden. Das Abholzen der Wälder hat zu Klimaveränderungen, zu Verkarstung, zu Unfruchtbarkeit und damit zu den immer wiederkehrenden Hungerkatastrophen geführt. Auch im letzten Jahr hat es kaum geregnet. Wie schon bei der letzten Dürreperiode vor drei Jahren bleibt vielen Familien nur der Ausweg, in eines der Sammellager der internationalen Hilfsorganisationen zu gehen.
Menschen- massen |
Frau | Kind | Kind | Kind | Menschen- gruppe |
---|
Denn nur dort gibt es Brot und Getreide, Weizen, der in ihren Heimatdörfern längst nicht mehr wächst.
Drei Millionen Menschen, so heißt es in einem Bericht der UNO, sind zur Zeit in Nordäthiopien unmittelbar vom Hungertod bedroht. Das sind mehr als vor der letzten Dürrekatastrophe Äthiopiens. Ein Drittel der Opfer sind Kinder. Viele Mütter erreichen das rettende Lager erst, wenn es für ihre Kleinen bereits zu spät ist.
Menschen- gruppe |
Frau | Männer | Männer | Männer | Männer |
---|
Bei den von Unterernährung gekennzeichneten Kindern verlaufen bereits geringe Infektionskrankheiten tödlich. Trotz Appellen der äthiopischen Regierung und der internationalen Hilfsorganisationen verlaufen die Hilfelieferungen ins Hungergebiet nur schleppend. Zur Zeit reichen die Vorräte gerade für die nächsten vier Wochen. Gebraucht würden rund 45.000 Tonnen Getreide im Monat, um den äthiopischen Hungernden das Überleben zu sichern.
Straße | Ladekran | Getreide- säcke |
Ladekran | Traktoren | Kräne |
---|
Doch die Verteilung der Lebensmittel scheitert aus vielerlei Gründen. Das Straßennetz reicht nicht aus, um die Lebensmittel per Lkw zu bringen. Der Bürgerkrieg in diesem Gebiet macht die vorhandenen Straßen oft unpassierbar und im Hafen von Massaba bleiben die Hilfslieferungen wochenlang liegen, bevor sie weitertransportiert werden können.
Flugzeug | Flugzeug | Boden | Boden | Getreide | Last- wagen |
---|
Landwirtschaftliche Maschinen verrotten ungenützt. Wegen des Bürgerkrieges ist es zu gefährlich, sie dorthin zu bringen, wo sie gebraucht würden. Getreidelieferungen - zumeist aus Westeuropa - müssen daher oft von Transportflügen aus der Luft abgeworfen werden.
Rad | Last- wagen |
Frauen- gruppe |
Frauen- gruppe |
Mann | Kind |
---|
In den Bürgerkriegsgebieten Eritrea, Tigris und Wolo ist aber die Luftbrücke oft die einzige Möglichkeit, zu den Hungernden vorzudringen, denn die Lastwagenkonvois, die Hilfe bringen sollen, wurden in den letzten Monaten immer wieder von Rebellen überfallen. Von den lebenswichtigen Autos blieben nur Wracks zurück, verkohlt wie ihre Ladung Getreide. Doch die dringenden Appelle an Regierung und Aufständische, einen Waffenstillstand zu schließen und die Straßen passierbar zu machen, verhallten bis jetzt ungehört.
Der Bericht über Äthiopien hat eine Länge von 3 Minuten, zum Kommentartext kommen bei den Flugzeugeinstellungen Geräusche hinzu. Durchgehend ist der Beitrag vom 5. Satz von Ludwig van Beethovens Sinfonia Pastorale untermalt. Titel dieses Satzes zu den im Bild gezeigten Hungernden: „Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm.”
Vielleicht noch als kleine Anmerkung dazu. Diese Musik wurde Anfang des 19.Jahrhunderts komponiert, also in dem Jahrhundert, in dem die Kolonialpolitik in Afrika zur vollen Blüte kam.
Dies als ein Beispiel, mit welcher Beliebigkeit Fernsehbeiträge bereits montiert werden. Bild und Musik stehen in keiner Beziehung, in diesem Beitrag stehen sie sogar gegeneinander.
Vier Tage später erscheint in der Tageszeitung Kurier folgender Leserbrief:
Ich rege mich darüber auf, daß andauern Beiträge mit Musik untermalt werden. Zu einem Bericht über die Hungerkatastrophe in Äthiopien wurde die Pastoralsymphonie von Beethoven gespielt. Man kann doch das auch ohne Musik bringen.
Montage 2: Digitallandschaft mit Einzelhändlern
1979 schreibt der deutsche Dokumentarfilmer Klaus Wildenhahn einen Artikel mit dem Titel „Industrielandschaft mit Einzelhändlern”. Dies war einer der letzten Auslöser einer Diskussion über die Methoden des dokumentarischen Arbeitens im deutschsprachigen Raum. Seither herrscht in der Diskussion um den Dokumentarfilm eher Stille.
Im Titel des Wildenhahnschen Aufsatzes ist der Widerspruch zwischen der Großindustrie Film und dem Einzelhändler Dokumentarist angelegt. Dieser Begriff des Einzelhändlers läßt sich nach 2 Seiten hin interpretieren. Es geht um den Handwerker - im speziellen Filmhandwerker -, der sich gegen die Massenfertigung stellt und im besten Sinne Qualitätsarbeit leistet. Doch dieser Handwerker ist in seiner Existenz gefährdet. Er kann nur mehr in den Nischen des industriellen Systems arbeiten, obwohl die qualitätvolle „Handarbeit” nach wie vor gefragt ist. Doch wo sind die Auftraggeber.
Wir setzen nun den Begriff „Digitallandschaft” für den Begriff „Industrielandschaft”, um damit die rasante Medienentwicklung zu charakterisieren. Film, Video, Computer verschmelzen immer mehr zu einer einheitlichen Bildproduktionsmegamaschine, deren fortgeschrittenstes Stadium die Generierung von Bildern ohne Kamera darstellt. Dazu kommt, daß Bilder auf der Seite der Rezeption immer verfügbarer, abrufbarer werden, und daß auf der Seite der Produktion sich eine Beliebigkeit des Montierens von Bildern und Tönen durchsetzt. Die Berieselungsmaschine funktioniert.
Es geht aber nicht um eine (Bild)kulturpessimistische Betrachtung der Medienentwicklung, es geht nur darum zu zeigen, daß die gesellschaftlichen Räume für den Film/Videodokumentaristen eng geworden sind.
Montage 3: Film und/gegen/oder Video
Gegen Ende der 80ger Jahre haben sich die Grabenkämpfe der „Film”filmer gegen die „Video”filmer und umgekehrt gelegt. Man hat zum Beispiel über die Auseinandersetzung auf Festivals gelernt, daß man sich gegenseitig etwas zeigen, daß Zusammenarbeit befruchtend sein kann. Noch dazu haben die produktionstechnischen Veränderungen dazu beigetragen, daß Video nicht mehr als kleiner Ableger von Film behandelt wird.
Das Medium Video hat sich emanzipiert und zwar so tüchtig, daß es sein eigenes Durchgangsstadium fast übersehen hätte.
Hat sich die Materialität der Bilderproduktion vom Material Film auf das Material Video verlagert, so geht es ja schon weiter. Videorecorder können schon durch digitale Speichereinheiten ersetzt werden. Zwar sind die möglichen Aufzeichnungszeiten noch kurz, aber der Weg der technischen Entwicklung scheint vorgegeben. Bildaufzeichnung ist immateriell geworden. Was bisher vernachlässigt scheint, ist die Auseinandersetzung um verschiedene Wahrnehmungsweisen des Materials „Film,” und des Materials „elektronischer Bildschirm”. Alexander Kluge beschreibt den Ansatzpunkt dazu folgendermaßen:
„Ein markanter Unterschied zwischen Kinoprojektion und Fernsehbild.
Die verschiedene Rhythmisierung der Zeit. Das Fernsehbild besteht aus Zeilen, etwa 600. Das Auge muß permanent lesen. Ich spreche hier nicht von der Wahrnehmung sondern von der Reizung der Sinnesbahnen der Großhirnrinde, die dem Zeichen besetzt entspricht. Ich nehme solche Besetzungen nicht wahr, aber sie hindern mich am schweifen.
Dem gegenüber beruht die Kinoprojektion auf einer Belichtung von einer 48stel Sekunde, der eine Dunkelphase von einer 48stel Sekunde folgt, die sogenannte Transportphase. Im Durchschnitt ist die Hälfte der Zeit im Kino dunkel. Das Auge sieht eine 48stel Sekunde nach außen und eine 48stel Sekunde nach innen. Die Wirkungen der Filmmontage sind durch diese Pausen erst möglich.
Dies ist das hohe Ideal in der Filmgeschichte, die Darstellung unsichtbarer Bilder. Dafür braucht man das bewegte Bild. Dieses existiert nicht ohne der Pause, die der Belichtung gleichrangig ist. Solche Pausen sind technisch im Fernsehmedium nicht möglich. Das Programm oder vielmehr der durch die Zeitarmut ausgelöste Kampf der Redaktionen um die Programmzeit tut ein übriges. Es füllt und zerstört alle Lücken, Zeitnischen. Die Zuschauer können sich vor dem Bildschirm die für ihre Wahrnehmung notwendigen Pausenwirtschaft, ihr Schweifen, ihren Rhythmus nur durch ihre Unaufmerksamkeit selber verschaffen. Sie lernen die Unaufmerksamkeit gewissermaßen rhythmisch einsetzen.”
Montage 4: Welche Möglichkeiten schafft Video
Video als das neue andere Aufzeichnungsverfahren schafft in dem Maße neue Möglichkeiten, als es spezifisch als solches genutzt wird. Was hier so profan klingt, wird verständlich, wenn man sich die technologischen Gegebenheiten unter dem Blickwinkel ihrer praktischen Auswirkungen ansieht.
- Die Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Wiedergabe
- Die Synchronizität von Bild und Ton
- Die elektronische Montage
- Die Kombinierbarkeit mit Zusatzgeräten wie Computer, Trickmischer, etc.
- Die Beeinflußbarkeit jedes Bildpunktes
- und nicht zuletzt der relativ preiswerte Aufzeichnungsträger
Für den Dokumentarbereich bedeutet das zum einem, daß über die bisherigen kinematographischen Grundlagen hinaus eine Arbeitsweise ermöglicht wird, die eine bisher nicht vorhandene Direktheit und Schnelligkeit einschließt. Zum anderen, daß ästhetische Formen entwickelt werden können, die im Film nur schwer oder gar nicht gegeben sind.
- Die mögliche Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Wiedergabe, bzw. die fehlende Entwicklungszeit, macht es nicht nur möglich, aufgenommenes Material sofort zu kontrollieren, sie erlaubt es auch, mitwirkende Personen am Produktionsprozeß teilhaben zu lassen. Ergebnis: Nicht nur ein Vertrauenszuwachs sondern auch Spaß.
- Bild und Ton laufen synchron. D.h. Originaltonsammeln wird erleichtert. Dies bedeutet vor allem unschätzbare Vorteile bei längeren Interviewpassagen.
- Die elektronische Montage bietet schnellen Materialzugriff, einfache Schnittsimulation und die Unabhängigkeit von Kopierwerken.
- Der Einsatz von Zusatzgeräten erweitert vor allem die ästhetischen Möglichkeiten. Elemente wie Schrift, computergenerierte Bilder, Bildmischungen, etc. sind relativ einfach einzusetzen und können - gezielt angewendet - Material verdichten und vielschichtiger machen.
- Die digitale Videotechnik erlaubt Bildverfremdungen, die sowohl das fiktive als auch das agitatorische Element eines Dokumentarfilms hervortreten lassen können. Hier ergibt sich auch eine Brücke zu anderen Genres wie Animations- oder Trickfilm.
- Der billige Aufzeichnungsträger Videokassette macht es möglich, große Materialsammlungen anzulegen. Vorteile ergeben sich vor allem bei Produktionen, die längerfristige Beobachtungen beinhalten (z.B. ethnographische oder soziale Studien) und bei ausführlichen Gesprächen. Nicht sparen müssen beim Material heißt aber auch, viel ausprobieren können und spontan arbeiten.
Montage 5: Die anderen Bilder
Betrachten wir die Entwicklungstendenzen dokumentarischer Film/Videoarbeit der letzten Jahre, so zeichnen sich spannende Prozesse ab. Charakteristisch für viele der interessanten Produktionen ist das Fehlen einer eindeutigen Zuordnung zu einem bestimmten Genre.
Wir bestimmen ein Dreieck, an dessen Enden die Merkmale Fiktion - Experiment - Dokument stehen.
Viele Film- und Videoregisseure opieren in diesem Spannungsfeld zwischen den Genres. Die neuen technologischen Möglichkeiten haben dazu geführt, daß neue audiovisuelle Sprachen entwickelt werden oder daß zumindest in diese Richtung hin operiert wird.
Videotechnologie erschöpft sich nicht in den doch meist sehr plakativen Effekten der Videoclips, sondern kann sehr weitreichende ästhetische Innovationen ermöglichen. Gerade im Bereich des Dokumentarfilms wurde durch das Anwachsen der unabhängigen Videoszene im letzten Jahrzehnt wieder einiges in Schwung gebracht.
Durch die Verwendung von Video wurden gerade im Bereich der Montage neue, experimentelle Formen eingebracht. Man könnte von audiovisuellen Versuchslaboren sprechen, in denen Bildsprachen entwickelt werden, die zur Darstellung unserer komplexen Gesellschaft beitragen.
„Die Leute fragen immer, was passiert, wenn es keine Story zu erzählen gibt. Dabei ist es doch so, daß selbst bei den täglichen Nachrichten nur mehr eine Gleichzeitigkeit gibt, eine Zusammenballung von Zeit und Raum. Libanon, USA, Sowjetunion ...
Das führt zu einem Bedeutungshaufen - ohne Story, aber auch ohne Geschichtlichkeit. Es entsteht eine Handlung ohne Narrativität, bei der der historische oder auch sonstige Zusammenhang wegfällt.
Diese Prozesse unterscheiden sich auch grundsätzlich von dem, was in den 60er und 70er Jahren als experimenteller oder struktureller Film bezeichnet wurde. Das ist längst schon langweilig geworden. Diese im Formalismus erstarrte Richtung kann aber jetzt durch elektronische Medien auf eine ganz neue Art wieder aufleben.
Man hat seinerzeit die "Handlungslosigkeit" propagiert, die sich in der Strukturierung von Oberflächeneffekten erschöpfte. Und man war auch gegen die Narrativität. Im Video kommt nun eine neue Handlung, eine neue Form inhaltlicher Festlegung, ohne aber rationell organisiert zu sein und ohne einer Disziplin des Erzählens unterworfen zu sein.” (Gabor Body)
Der Aufbruch in die neuen Bildwelten hat begonnen. Auf der kommerziellen, industriellen Schiene hat er zu einem ungeheuren Anwachsen der Bilder geführt. Der Platz für „andere Bilder” ist eng geworden, doch im unabhängigen Bereich werden sie entwickelt und produziert, die spannendsten werden noch auf uns zukommen.