Die elektromagnetische Erinnerung |
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Zu durchaus ähnlichen Repräsentationsmethoden findet Manfred Neuwirth in seinen Erinnerungen an ein verlorenes Land, 1988. Auch hier dringt ein Filmemacher in vergessene Gebiete vor, blickt zurück in die Geschichte einer Enteignung: Wo heute der Truppenübungsplatz Allensteig liegt, im niederösterreichischen Waldviertel, waren einst, vor 1938, über vierzig Dörfer. Die Nationalsozialisten haben alle diese Dörfer, um ein militärisches Übungsgelände zu gewinnen, ‘entsiedelt’, aufgelöst, Menschen heimatlos gemacht. Neuwirth geht der Historie dieses Landstrichs und seiner Menschen nach, besucht im Frühsommer 1988 ein Aussiedlertreffen und läßt die ehemaligen Bewohner der Orte vor der Kamera erzählen: Geschichten über den engen Zusammenhang zwischen Landschaft, Politik und individueller Tragödie.
Auch wenn die beiden zuletzt erwähnten Dokumente die Trennlinie zum Kino hin schon wieder verwischen und gar nicht so sehr medienspezifisch arbeiten – die Ästhetik, die die Videokunst seit den siebziger Jahren in tausend Mutationen generiert hat, ist eine sehr spezielle, unverwechselbare. Video ist Kunst für den Monitor, nicht Fernsehen und nicht Film, nicht ganz Museumsstück und nicht ganz Alltagsobjekt. Video operiert zwischen den Schauplätzen und den Ausstrahlungsorten, am schmalen Grat zwischen schnellem Pamphlet und musealem Anspruch. Aus dieser Qualität, einzigartig in der Geschichte der audiovisuellen Kunst, schlägt das Medium Profit. Die konsequente Aufreibung der Grenzen und Kategorisierungen setzt sich in den Bändern, in der konkreten Videoarbeit fort. Erzählen und Abbilden, Fiktion und Fakt, Avantgarde und Dokument fließen da nicht selten ineinander, die Trennlinien zwischen den Sektoren eliminierend.
Manfred Neuwirths Tibetische Erinnerungen (1995) und manga train (1998), die japanische Fortsetzung dazu, sind nur zwei jüngere – und außerordentlich schöne, sinnliche – Beispiele für die sanfte Verschmelzung von Dokumentarischem und Inszeniertem; melancholische Serien knapper, genau selektierter Reiseerinnerungen, in Zeitlupe gesetzt und dem Alltag damit entfremdet. Neuwirth dringt gewissermaßen in die Tiefe der Bilder, indem er sie zugleich durchdringend und zärtlich anschaut: Die lyrische Nachbearbeitung läßt Wirklichkeit in Erinnerung umschlagen, das Objektive wird streng subjektiv. Daß gerade die interessantesten ‘dokumentarischen’ Videobänder oft das Ergebnis akribischer Postproduktion sind (Ausschnitte wählen, Geschwindigkeiten ändern, ‘Realismus’-Werte entziehen), entkräftet das alte Argument und Vorurteil vom Schnappschußcharakter, der der Videokunst angeblich innewohnt, nachhaltig.
Stefan Grissemann, Blimp 39