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Tibetische Erinnerungen, manga train, magic hour
Ein buddhistischer Mönch blickt in die Kamera. Ein Motorrad fährt die Strasse entlang. Auf einem Tisch steht eine Flasche Bier. Scheinbar zusammenhangslos reihen sich in Tibetische Erinnerungen die verschiedensten Bilder aneinander. Jede Einstellung ist von der nächsten durch eine Abblendung getrennt. Manfred Neuwirth überlässt es dem Zuschauer, Bezüge herzustellen und verzichtet weitgehend darauf, die Aufnahmen unterschiedlich zu gewichten. Die insgesamt 35 Bilder sind alle gleich lang, jedes von ihnen ist sichtbar verlangsamt. Nur der ersten Einstellung verleiht der Regisseur eine besondere Bedeutung, indem er sie seinem Film als Prolog voranstellt. Sie zeigt chinesische Soldaten, die unter Gewaltanwendung tibetische Mönche verhaften. Die politische Unterdrückung bildet den Grundton, an den manche der darauffolgenden Einstellungen wie ein Echo erinnern. Wenn etwa eine uniformierte Frau im Fernsehen eine Schlagerschnulze singt, ruft ihre Kleidung die der Soldaten ins Gedächtnis. So visualisiert die Szene die kulturelle Unterdrückung des tibetischen Volkes. Manfred Neuwirths Ästhetik leistet ihr Widerstand. In der Zeitlupe wirkt die Mimik der Schlagersängerin grotesk. Zudem läuft der Ton asynchron zum verlangsamten Bild weiter. Mit dieser Trennung demontiert der Filmemacher die herbeigesungene Harmonie.
Neuwirths zwischen 1988 und 1995 aufgenommenes Reisejournal lässt sich dennoch nicht auf diese politische Ebene reduzieren. Genauso wichtig ist in dem Film das scheinbar Nebensächliche.
Elias Schafroth
In Manfred Neuwirths Filmen begegnet man dieser unentwegten Suche nach dem Augenblick, in dem die Wirklichkeit in Schwingung gerät und plötzlich seinen affektiven und ästhetischen Erwartungen entspricht, manga train setzt sich aus dreissig gleich langen Einstellungen zusammen und in der Tat gibt es in jeder von ihnen eine poetische Dimension zu entdecken. Jeweils folgt eine Abblende in Schwarz. Man ist gezwungen, den ständigen Wechsel zwischen dem Hier und Jetzt und dem Anderswo nachzuvollziehen. In diesem Fall ist das Anderswo Japan. Der Regisseur zeigt Fragmente: Züge, Restaurants und Museen; manga train oder der Notizblock eines Reisenden. Jede Zeitlupe wird von einer Tonspur begleitet, die unsere Vorstellungskraft beschwört. Auch hier geht es Manfred Neuwirth darum, eine Welt mit nur wenigen Kadern und in wenigen Gesten darzustellen: ein Fischhändler holt einen Krebs aus einem Aquarium, eine Fahne bewegt sich nachts im Wind und gibt dabei den Blick auf eine Strasse frei. Man erfährt nichts über diese Strasse, doch die Ladenschilder rufen unweigerlich das Bild von Sinjuku, einem Viertel in Tokyo, hervor. Es gelingt ihm, ein Detail immer so einzufangen, dass die Welt gleichzeitig enthüllt und verschleiert wird. Er hat sich nicht für die getreue, gewissenhafte, photographische Wiedergabe entschieden, sondern schlägt eine Interpretationsweise vor, die die Phantasie des Zuschauers anregen soll. Im Verlauf dieser wortlosen Erzählung, die der zweite Teil der in Nyon vorgestellten Trilogie ist, entfaltet sich die formale Ausarbeitung zu völliger Reife und der Zuschauer kann sich ganz seiner Träumerei über Japan hingeben.
Yann-Olivier Wicht
Nach seinen Filmen über Tibet und Japan richtet Manfred Neuwirth seine Kamera im dritten Teil seiner Trilogie auf heimatlichere Gefilde: Niederösterreich, wo er aufwuchs und noch heute lebt. Der Blickwinkel ist derselbe: eine Analyse von Details aus dem Alltagsleben, angefangen von einer Bierflasche auf einem Tisch bis hin zu gemächlich vorbeiziehenden Wolken. Das Ziel: Alltägliche Dinge, die man aus Gewohnheit gar nicht mehr richtig wahrnimmt, werden aus einer neuen Perspektive gezeigt. Ein durch einen Maschendrahtzaun gefilmtes Fussballspiel scheint plötzlich geheimnisvoll. Und die Falten eines Akkordeons in der Detailaufnahme nehmen fast abstrakte Proportionen an.
Wie die anderen Filme der Trilogie, so besteht auch magic hour aus mehreren gleichlangen Einstellungen. Sie sind fünffach verlangsamt und durch Abblendungen voneinander getrennt. Surround-Sound wird oft als Kontrapunkt zu den Bildern eingesetzt. Neuwirth kombiniert die Präzision des minimalistischen Experimentalfilms mit der Poesie eines Videotagebuchs. In der Zeitlupe zeigen kleine Gesten ein Pathos, den wir bei Normalgeschwindigkeit nicht bemerken würden. Den Filmemacher faszinieren zeitlich begrenzte Phänomene: Feuerwerke, aufblitzende Lichter, das Geräusch tropfenden Wassers, das Radio vorbeifahrender Autos. In der Filmkunst bezieht sich der Ausdruck «magic hour» auf die besonderen Lichtverhältnisse kurz vor Sonnenuntergang. Ein kurzzeitiges Zusammentreffen von zwei Elementen aus der Physik: Zeit und Optik. Dieses Aufeinandertreffen wird in magic hour immer wieder ausgelotet - wie die Kirchenglocken, die im Off läuten, während die Kamera dem Muster von Pflastersteinen folgt.
Marcy Goldberg