Vor der Haustür die Fremde |
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In seinem experimentellen Dokumentarfilm „Aus einem nahen Land“ erkundet Manfred Neuwirth ein Stück Niederösterreich / Stück Heimat
In der Hitze des Sommers suchen ein paar Schafe den Schatten unter einem Baum. Mitten im Auwald findet eine katholische Feldmesse statt. Auf einem abgeernteten Feld werden in Plastik verschweißte Heuballen gestapelt. Ein älterer Mann schneidet auf einer wackeligen Leiter stehend die Äste eines turmhohen Nadelbaums. Beim Heurigen hat man sich für den Ansturm der Gäste gerüstet, eine Reihe von blankgeputzten Tischen steht im kiesbestreuten Garten. Unter lautem Blöken drängen sich abends die Schafe und Lämmer im Stall.
Selten zuvor hat sich Manfred Neuwirth so nah an die Orte, Laute und Geschmäcke seiner Heimat herangewagt wie mit seiner neuen Arbeit. Schauplatz des 2013/14 gedrehten Films Aus einem nahen Land ist die Gegend rund um Kritzendorf, eine kleine Gemeinde an der Donau nicht weit von Wien. Zu den alt eingesessenen Nachbarn des Filmemachers gehört die Familie Vitovec, die vom Weinbau lebt. Der Film hat keine Dramaturgie im klassischen Sinn, deshalb auch keinen Mittelpunkt, doch immer wieder kehrt er zu dieser Familie und ihrer Landwirtschaft zurück. Man sieht die Männer im Weinberg, die unter größten Mühen Stempen für neue Rebzeilen einschlagen, wie sie später die Weinstöcke zurechtschneiden und schließlich bei der Lese und dem Abfüllen des Weins; sieht die Frauen beim Binden der Erntedankkrone und Zubereiten eines Heurigenbuffets. Harte Arbeit, eins wie das andere. Mit leisem Quietschen rotieren zwei Spanferkel langsam auf einem Doppelgrill.
Mit der Idee, in der eigenen, unmittelbaren Umgebung zu filmen, sagt Neuwirth, hat er sich schon lange Zeit getragen. „Ich habe etliche Projekte gemacht, die in weiter und sehr weiter Ferne entstanden sind, jetzt war's ein bissl eine Herzensangelegenheit, mich einmal wieder dem näheren Umfeld zu stellen. Dabei stellt das für mich von den Erfahrungen, die ich bei der Arbeit machen kann, keinen Unterschied dar, ob ich in Japan oder in Tibet oder wie jetzt eben in Niederösterreich vor der Haustür drehe.“
Aus einem nahen Land ist Neuwirths Versuch, das Vertraute mit größtmöglicher Distanz zu sehen, um sich des Besonderen im Alltäglichen gewahr zu werden. Gleich das erste Bild des Films – Schafe, ein Hügel, gleißende Sonne, ein einzelner Baum – gibt Rätsel auf. Wo mag dieses Land wohl liegen? In Griechenland? Italien? Für den Filmemacher ist die Erkundung des heimischen Terrains immer dann am Spannendsten, wenn es sich ihm „neu preisgibt“. Freilich sind die schönen Bilder, die Neuwirth dabei findet, niemals Selbstzweck; sie zeigen auch keine unberührte Natur, sondern was die Menschen mit dem Land machen – und was das Land mit den Menschen. Prozesshaftes – die körperliche Arbeit ebenso wie der Wechsel der Jahreszeiten – ist seinem Film ganz deutlich eingeschrieben.
So physisch sein Kino ist, so sehr ist es Manfred Neuwirth auch um eine individuelle Formensprache zu tun. So markiert Aus einem nahen Land zugleich eine Fortsetzung als auch Weiterentwicklung jener Form, die der Filmemacher mit seinen Tibetischen Erinnerungen (fertiggestellt 1995) für sich gefunden und seither immer weiter verfeinert hat, u.a. mit manga train (1998) und magic hour (1999), die später auch zusammen veröffentlicht wurden und als [ma]-Trilogie international stark erhöhte Beachtung fanden.
Jede der Einstellungen dieses neuen experimentellen Dokumentarfilms – es sind 24 an der Zahl – hat eine Dauer von drei Minuten und ist durch Schwarzfilm deutlich von der jeweils folgenden abgesetzt. Das Bild läuft ums Zweieinhalbfache verlangsamt ab; der Ton, am selben Ort und zur gleichen Zeit aufgenommen, streift das Gezeigte, ohne es zu verdoppeln, und erweitert es um Geschehen im Off. Diese bewusste „Diskrepanz“ zwischen Bild und Ton, die für sein filmisches Schaffen durchaus zentral ist, eröffnet den Zuschauerinnern und Zuschauern „eine gute Möglichkeit, anders zu sehen und zu hören“ (Neuwirth). Bei der Tongestaltung arbeitet der Filmemacher bereits seit vielen Jahren mit dem Sounddesigner und elektronischen Klangkünstler Christian Fennesz zusammen. Die vier abstraktesten Einstellungen im neuen Film – ein Kornfeld, aufgestapelte Holzscheite, ein schneebedeckter Forstweg sowie dichter Auwald, in den die Sonne hereinblinzelt – hat Fennesz zusätzlich mit einer eigenen Musik unterlegt.
In der kompromisslosen Arbeit mit Bild und Ton lässt Neuwirth sowohl das ethnografische Kino als auch das Werk etwa des US-Filmers James Benning – der gern zum Vergleich herangezogen, wenn nicht gar als Vorbild genannt wird – ganz entschieden hinter sich. Und so engmaschig Neuwirth seine Filme auch konzipiert, so groß ist die Freiheit, die man später beim Betrachten, dem Schauen, Hören und Assoziieren, genießt. Wir lernen, die Welt durch den Filmemacher neu zu erfahren. Das hat, nicht zuletzt, mit seinem Begriff von filmischem Handwerk zu tun. Nicht die Beherrschung der Kamera oder des Schnitts sind für Neuwirth – der übrigens beides mit Perfektion beherrscht – wirklich ausschlaggebend, sondern sein künstlerisches Credo definiert sich als „Lebensprinzip“: Er gönne sich einfach „viel Drehzeit, mein eigenes Tempo und alle künstlerischen Freiheiten“, um Themen langsam auf die Spur zu kommen, um ein Vertrauen zwischen Gefilmtem und Filmendem herzustellen, um Dinge zu beobachten, Bilder und Töne zu sammeln und zu montieren.
Mit welch enormer Ruhe und hartnäckiger Konzentration der Filmemacher seine größeren experimentellen Projekte verfolgt, belegt die Vorgeschichte von Aus einem nahen Land. Sie reicht bis ins Jahr 2007/08 zurück, als Neuwirth mit der Fotoserie Territorium quasi eine Vorstudie zu diesem Film realisierte. Vielleicht war es gerade die Arbeit mit den unbewegten Stills, die ihn dazu veranlasst hat, erstmals in einem Film durchgängig auf mobile Kamera zu setzen: Sie vermisst jede der 24 Einstellungen, fährt, knapp überm Boden, langsam nach links und dann wieder zurück an den Ausgangspunkt. Zunächst einmal ist man sich dieses gleichförmigen Dahinfließens kaum bewusst, umso verblüffender jedoch ist der Effekt: Mit der Verschiebung unseres Blickpunkts verändert sich auch die Räumlichkeit der Bilder, sie wirken plastisch wie in 3D.
Aus einem nahen Land erforscht vertrautes Terrain, doch einige Bilder muten so unwirklich an, als handelte es sich dabei um einen Science-Fiction-Film. Einmal taucht neben Heuballen auf einem Feld wie aus dem Nichts ein riesiger Traktor auf; ein andermal kreuzt ein Schiff den Bildhintergrund, wobei es aussieht als schneide es mitten durch die Landschaft. Und manchmal ist's die Kamera selbst, die die schönsten Irritationen provoziert: Dann blickt jemand akkurat ins Bild, tuschelt während der Sonntagspredigt mit der Sitznachbarin oder ändert plötzlich beim Gehen scheinbar unmotiviert abrupt die Richtung.
Michael Omasta