Zweimal Weltkino |
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„Tibet Revisited” und „Welt Spiegel Kino" sind Filme, die sämtliche Formen und Genres sprengen.
Thematik, Konzept und Ästhetik der zwei Filme könnten verschiedener kaum sein: „Tibet Revisited“, ein minimalistisches Panoptikum, das sich aus 28 dreiminütigen Ansichten aus Lhasa und Umgebung zusammensetzt, und „Welt Spiegel Kino“, eine technisch aufwendige work in progress, die sich in drei gefundene Filmdokumente aus den Zehner- und Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts vertieft, um ihre eigene Fiktion zu schaffen und Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Realität der Straße und der des Kinos anzustellen. Dennoch haben die Filme abgesehen von Produzent (Manfred Neuwirth) und Produktionsfirma (loop media), auch Gemeinsamkeiten: die Genauigkeit ihres Blicks, die Präzision ihrer Gestaltung und die Lust, mit der sie die Grenzen etablierter Formen und Genres sprengen. Weltkino aus Österreich.
„Tibet Revisited“ steht in loser Nachfolge von Manfred Neuwirths vor zehn Jahren entstandener Arbeit „Tibetische Erinnerungen“. Der kulturelle Konflikt, das zeigt sein neuer Film deutlich, hat sich inzwischen verschärft. „Lhasa“, sagt der Filmemacher, „ist eigentlich komplett chinoisiert, die Tibeter sind da schon eindeutig in der Minderheit.“ Gleichwohl spürt man in fast jedem der 28 mit statischer Kamera aufgenommenen Tableaus immer noch die ungeheure Präsenz des traditionellen geistigen Lebens durch. Eine zeigt die Gläubigen, die sich vor dem ehemaligen Palast des Dalai Lama niederwerfen; ein anderes hypnotisches Bild zeigt einen sich gleichförmig drehenden Mahlstein; ein drittes einen Gang in einem Kloster, der nur durch den Gesang eines Mönchs im Off überhaupt als solcher zu identifizieren ist.
Neuwirth setzt auf eine „Montage der Kontemplation“. Wer sich auf den Film einlässt, lernt im Kino tatsächlich zu sehen. Das markiert auch den wesentlichen Unterschied zu „Tibetische Erinnerungen“. Während der frühere Film noch mit kleinen Verschiebungen zwischen Ton und Bild arbeitet, sind diese (kulturellen) Verschiebungen den quasi unbearbeiteten Bildern von „Tibet Revisited“ bereits inhärent. In den Straßen von Lhasa zeugen Jeans, Coca-Cola und Popmusik vom Fortschritt der Globalisierung, am Land vor allem neue Fabrikbauten, befestigte Straßen und ein gestiegenes Verkehrsaufkommen. Mit seiner letzten Aufnahme, einer Fahrt über Land, hebt der Film unerwartet noch einmal völlig ab. Über die Straße, die im funkelnden Licht des Hochlands vor uns liegt, donnern riesige Lastwagen heran, derweil die einheimischen Kleinhändler mit ihren urtümlichen Gefährten unbeirrt weiter den Straßenrand entlangtuckern.
Ausgangspunkt von „Welt Spiegel Kino“ sind drei Straßenszenen, die in Wien, Surabaya und Porto aufgenommen wurden und jeweils Leute vor einem Kino zeigen. Im Kinematograph Theater in Wien Erdberg läuft „Die schwarze Kappe“, ein dänischer Sherlock-Holmes-Film, im Apollokino in Surabaya „Die Nibelungen“ von Fritz Lang und im Kino von Porto ein Nationalepos um einen portugiesischen Bauernführer. Doch mehr als das interessieren Gustav Deutsch die Menschen, die sich auf der Straße angesammelt haben. Er zoomt in die Bilder, holt sich einzelne Personen aus der Menge und macht sie zu „Menschen des Kinos“, indem er mithilfe anderen zeitgenössischen Filmmaterials deren – mögliche - Biografien weiterspinnt: Ein kleiner Bub wird zum Eisenbieger im Wurstelprater, der Besitzer des Kinematographen im Ersten Weltkrieg als Soldat eingezogen. eine der Kinobesucherinnen aus Portugal arbeitet die Woche über in einer Sardinenfabrik.
„Meine ganze Arbeit“. sagt Deutsch, „ist mit Zufall verbunden. Genauso wie man Filmgeschichte in Archiven findet: zufällig, zusammenhanglos, aber doch irgendwie miteinander verbunden.“ Der ungeheure Reiz dieses Films liegt in der Dichte des gefundenen Materials begründet und dem fast anarchischen Witz, mit dem Deutsch es montiert hat. Ergebnis ist eine faszinierende Reflexion über das Kino und seine Doppelfunktion als Zeit- und Wunschmaschine, in der Siegfried und die Drachen von Java, die Sardinenarbeiterinnen und die Salazar-Faschisten ins Reden miteinander kommen wie die Avantgarde und das frühe Kino.
Michael Omasta, Filmredakteur des Falter und Vorstandsmitglied von Synema – Gesellschaft für Film und Medien, Wien