Aus einem nahen Land |
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Gleich das erste Bild, die erste Einstellung, gibt Rätsel auf. Ein paar Schafe drängen sich im Schatten eines Baumes, der in gleißender Sonne auf einem Hügel steht. Lautes Blöken überdeckt das Geräusch der sanften Brise, in der sich die Äste wiegen. Wo mag dieses Land wohl liegen? In Griechenland? Italien?
So engmaschig Manfred Neuwirth seine Filme in formaler Hinsicht konzipiert, so groß ist die Freiheit, die man später beim Betrachten, dem Schauen, Hören und Assoziieren, genießt. Was die äußere Struktur betrifft, setzt Aus einem nahen Land die Reihe seiner „experimentellen Dokumentarfilme“ fort: Jede der Einstellungen, 24 an der Zahl, hat eine Länge von drei Minuten und ist durch Schwarzfilm von der nächsten abgesetzt. Das Bild läuft ums Zweieinhalbfache verlangsamt ab, der Ton, am selben Ort und zur gleichen Zeit aufgenommen, streift das Gezeigte, ohne es zu verdoppeln, und erweitert es um Geschehen im Off; vier der abstrakteren Einstellungen – ein Kornfeld, aufgestapelte Holzscheite, ein schneebedeckter Forstweg sowie dichter Auwald, in den die Sonne hereinblinzelt – sind zusätzlich mit Musik von Christian Fennesz unterlegt.
Innerhalb dieses Rahmens jedoch kommen die Dinge so richtig in Bewegung. Erstmals macht hier auch die Kamera mobil, fährt, knapp über dem Boden, langsam nach links, dann wieder zurück an den Ausgangspunkt. Obwohl man sich dieses gleichförmigen Dahinfließens zunächst einmal kaum bewusst wird, ist der Effekt verblüffend: Mit der Verschiebung unseres Blickpunkts verändert sich auch die Räumlichkeit der Bilder, sie wirken plastisch wie in 3D.
Schauplatz des 2013/14 gedrehten Films ist Kritzendorf und Umgebung, eine kleine Gemeinde an der Donau nordwestlich von Wien. Familie Vitovec, die Nachbarn des Filmemachers, leben vom Weinbau. Man sieht die Männer im Weinberg, die unter größter Mühe eiserne Stempen für neue Rebzeilen einschlagen, wie sie die Weinstöcke zurechtschneiden, schließlich bei der Lese und beim Abfüllen des Weins; sieht die Frauen beim Binden der Erntedankkrone und Zubereiten eines Heurigenbuffets. Harte Arbeit, eins wie das andere. Mit leisem Quietschen rotieren zwei Spanferkel langsam auf einem Doppelgrill.
Neuwirth erkundet ihm vertrautes Terrain, doch manche Bilder von Aus einem nahen Land muten so unwirklich an, als handelte es sich um Science Fiction. Einmal, es ist Hochsommer, taucht neben riesigen Heuballen auf einem Feld wie aus dem Nichts ein Traktor auf; ein andermal kreuzt ein Schiff den Bildhintergrund, wobei es aussieht als schneide es mitten durch die Landschaft. Und manchmal ist's die Kamera selbst, die die schönsten Irritationen provoziert: Dann blickt jemand akkurat ins Bild, tuschelt während der Sonntagsmesse im Wald mit einem Sitznachbarn oder ändert beim Gehen plötzlich abrupt die Richtung.
Michael Omasta