Das Meer erzählt |
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Das unendliche Rauschen
zu Manfred Neuwirths Das Meer erzählt nur vom Meer
„Unaufhörlich das Meer, das am gelassenen Morgen den unendlichen Sand zerfurcht“, beendete Jorge Luis Borges sein Gedicht Das Meer. Ein vergleichbares Bild steht am Anfang von Manfred Neuwirths Das Meer erzählt nur vom Meer, dessen Titel (zuerst auf Portugiesisch eingeblendet: O mar só fala do mar) von einem anderen großen Autor inspiriert ist – dem Portugiesen Fernando Pessoa, der unter dem Heteronym Alberto Caeiro die Gedichtzeilen verfasste:
Du hast den Wind nie wehen gehört.
Der Wind erzählt nur vom Wind.
Was du ihn sagen hörtest, war Lüge,
Und diese Lüge ist in dir.
Die Naturgewalt bleibt in ihrem Wesen nicht fassbar, und doch lädt sie den konzentrierten Beobachter zur Deutung, zum gedanklichen Eintauchen, ein. Mehr noch als der unsichtbare (also nur in seiner Wirkung wahrnehmbare) Wind ist das Meer für den Blick – und das Kino oder angrenzende Laufbilder – eine unendliche Projektions- und Reflektionsfläche: von einer beruhigenden Gleichförmigkeit im Rhythmus der Wogen und doch stets im mannigfaltigen Wandel. Keine zwei Wellen sind gleich, auch wenn es dem Auge öfters so scheinen mag.
Mithin ein ideales Sujet für Neuwirth, dessen Arbeiten als Medienkünstler immer wieder scheinbar dokumentarische Impressionen sammeln, die durch den geschärften Blick (meist kombiniert mit präzis orchestriertem Ton, zuletzt – wie auch wieder in Das Meer erzählt nur vom Meer – vor allem durch kongeniale soundscapes von Christian Fennesz vertieft) erstaunliche Resonanzräume öffnen: Der flüchtige Eindruck einer Abfolge von reduzierten, „meditativen“ audiovisuellen Ausschnitten weitet sich essayhaft und mysteriös. Die Konzentration der Wahrnehmung eröffnet eine labyrinthische Vielfalt der Zugänge, die sich hinter und zwischen den Bildern auftun.
In Das Meer erzählt nur vom Meer präsentiert Neuwirth als Drei-Kanal-Installation 21mal durch kurze Schwarzblenden getrennte Bildtripel, jeweils mit einer durchschnittlichen Laufzeit von drei Minuten (plus minus einer halben), gefilmt in Arrifana, Portugal. Ein Kompendium von Meereseindrücken, das trotz der konsequent statischen Aufnahmen von unaufhörlicher Bewegung erzählt.
Aber nicht nur die Bewegung der schier endlosen Wasserfläche, die zum demütigen Studium, zum Sich-Versenken in ein Naturschauspiel einlädt, das bei aller majestätischen Regelmäßigkeit im Detail eine unfassbare Menge von kleinsten Unterschieden offenbart. Beginnend mit den Wellenbewegungen im Einzelnen wie im Großen, wo sich mit der Gischt und mit den Strömungen helle und dunkle Muster in das Meeresbild einschreiben. Sechs von Neuwirths Bilder-Tripeln zeigen exklusiv das Meer (ob mit oder ohne Horizont) und jedes davon wirkt gänzlich anders, obwohl alle Einstellungen von derselben Position aus auf einer Terrasse mit Meerblick gefilmt wurden: Nicht nur die unterschiedliche Stärke des Wellengangs, der Sonneneinstrahlung, der Tageszeit sorgen für völlig andere Eindrücke von der Färbung (von hellblau zu schwarzgrau), dem Tosen (von windgepeitschtem Kräuseln zum gelassenen, sanften Bild eines in eine Richtung durchziehenden Flusses der Strömung), der Sinnlichkeit des Meeres.
Zugleich sind sie filmische Vexierbilder: Beim Betrachten kann man sich etwa kaum der Versuchung entziehen – gerade, wenn zwei „reine“ Meerbilder aufeinander folgen – die Einstellungsgrößen zu klassifizieren: von der „Totalen“ mit einem Goldenen Schnitt des Meeres unter dem Horizont zur scheinbaren „Nahaufnahme“ des Wellenrauschens. Dabei zeugen alle Bilder von einer Distanz, die nicht nur den Abstand der Digitalkamera meint, sondern auch diejenige von Neuwirths Blick: ein sachliches Sich-Zurücknehmen, das gerade darin einen Freiraum für die Emotionen und Sinneseindrücke des Publikums schafft (und die sich mit denen des Schöpfers keineswegs decken müssen, aber durchaus, beglückend sein können).
Neuwirth folgt dabei auch keinem strikt strukturalistischen Prinzip, auch wenn manche Einstellungen ganz offensichtlich korrespondieren (und alle auf verblüffende und oft unerwartete Weise miteinander „sprechen“). Das beginnt schon damit, dass sich das Meer nicht nur als das Meer im buchstäblichen Sinne erzählt. Sondern auch als der Strand (und seine menschlichen wie tierischen Besucher). Oder als der Himmel (und die Wolken, die Kondensstreifen der Flugzeuge und der im dunklen Himmel unmerklich durchs rechte Bild wandernder Mond). Und vor allem – auch darin wieder ganz filmisch – als das Licht.
Alleine die zwei Unterwasserbilder in Das Meer erzählt nur vom Meer vermitteln ein völlig anderes Gefühl des aquatischen Sich-Wandelns mit ihren atemberaubenden, fast psychedelischen Lichtreflexen und Luftbläschen, vereinzelt verfinsternd-verzaubernd durchzogen vom brodelnden Sand- und Schlamm des vom Wellengang aufgewirbelten Meeresbodens. Aufgenommen in einem anderen Element (unweigerlich denkt man kurz an Neuwirths scapes and elements von 2011 mit seinen fünf langen Naturpanorama-Studien), mit einer völlig anderen Wirkung. Und doch erzählt sich auch darin das Meer letztlich so ungreifbar und doch absolut vereinnahmend wie durch die Luft betrachtet.
Sukzessive offenbaren die Einstellungen Neuwirths Offenheit für die Verschiedenheit der Empfindungen und der Wahrnehmung. Die Bilderfolgen bieten stets neue Überraschungen: Manches scheint rein kalligrafisch, sogar malerisch – das vorletzte Triptychon, eine überwältigende Kombination von zwischen gelbstrahlendem Sonnenabglanz und verdichteter Schwärze changierenden abendlichen Wolkenfeldern à la J.M.W. Turner scheint in jedem Augenblick wie eine Leinwand im Stillstand, obwohl sich die imposanten Wolkenbanken und die lichtgeäderten Himmelsflecken dazwischen ununterbrochen verändern –, also geradezu abstrakt. Doch das Konkrete ist nicht nur in Form der Elemente stets präsent. Gerade die von Personen und Tieren bevölkerten Strandaufnahmen laden zum Verfolgen von Abläufen nicht nur als Bewegungen in Raum und Zeit (und Licht und Dunkel) ein, sondern verführen zum Studium von Tätigkeiten.
Hier zeigt sich auch am stärksten Neuwirths niemals zu unterschätzender Sinn für Humor: Schon die Eröffnungseinstellungen, in denen die Wellen morgens an den Strand branden, während sich in der linken und rechten Einstellung (die mittlere ist oft diejenige, die gewissermaßen „leer“ bleibt, aber nicht immer...) eine Figur bewegt, kontrastiert das Monumentale des Meeres wie es in der Lyrik von Borges beschworen wird, mit der alltäglichsten Erfahrung – dem Strandlauf bzw. dem Strandspaziergang. Neuwirth lässt in den verdreifachten Einstellungen (Pessoa: „Ich vervielfachte mich, indem ich mich vertiefte.“) gerne gegenläufige Bewegungen zueinanderkommen (die Person im linken Bild bewegt sich zunächst nach oben, diejenige rechts erst nach unten), die sich dann kurzfristig in gleichförmige verwandeln – oder sich auch immer wieder wortwörtlich „verlaufen“.
Wie stets bei Neuwirth gibt es trotz des scheinbaren Minimalismus viel zu sehen, oft so viel, dass man gar nicht weiß, wohin blicken (was hauptsächlich mit den Sehgewohnheiten zu tun hat, die man in Neuwirths Laufbild-Essays produktiv aufbrechen kann). Die drei Anfangseinstellungen mit ihrem sich zum Strand hin verjüngenden Lichtspitz zwischen Schattenzonen und den sich stets erneuernden Formen der Wellen, der Gischt offenbaren zum einen das Werk dominierende formale Aspekte und geben eine kleine Ahnung von der Unendlichkeit, mit der man sich am Meer konfrontiert sieht. Doch die Strandläufer sorgen zugleich für einen banalen, dabei nicht weniger faszinierenden Kontrapunkt.
In späteren Einstellungen werden menschliche Tätigkeiten als Freizeitbeschäftigung wie als kurze Eingriffe ins Naturgeschehen beobachtet: In der zweiten formen Surfer einen Kreis am Strand, bevor sie mit ihren Brettern aufbrechen – die zurückbleibende kreisförmige Spur im Sand wird bald in einer Szene wieder auftauchen, die drei unterschiedliche Formen des sportlichen Spiels (und sich sehr unterschiedliche verhaltende und massierende Anhäufungen von Menschengruppen) gegenüberstellt. Noch später werden die Surfer in den Wellen gezeigt, wo sie hauptsächlich hinausschwimmend gegen die Wellen anrudern, während nur gelegentlich einer auf dem Kamm reitend entgegenkommt. Und die Menschengruppen finden ganz unangestrengt ihr ironisches Echo in einer späteren Vogelperspektive auf Ansammlungen von Vögeln, die sich auseinander- und zusammenbewegen, was zu ständiger Veränderung (der Anzahl, der Positionen) führt, obwohl sich auf den ersten Blick „nichts“ tut. (Die immer wieder plötzlich durch eine von drei Einstellungen gleitenden Vögel sind überhaupt einer der bestechendsten Wiederkehr-in-ständiger-Differenz-Bonusposten des Werks.)
Wo in vorigen Filmen Neuwirths – etwa SNOW/SCHNEE (2018) – auch studiert wurde, wie menschliche Eingriffe bleibende Spuren in der Natur hinterließen, scheinen solche Überlegungen hier müßig: Die sich stets verändernde und doch endlos-zyklische Macht des Meeres wirkt stärker. Die Schönheit von Das Meer erzählt nur vom Meer liegt auch darin, dass der Titel kein leeres Versprechen bleibt. Die Einladung, den Blick schweifen zu lassen und sich den Meereseindrücken anzuvertrauen, mit ihnen wegzudriften wie man es bei seinem realen Anblick (und dem beruhigenden Klang seines Rauschens) tut, lässt alle Versuche einer Kategorisierung über vergleichende oder kontrastierende Details letztlich abprallen. Und einen mit dem Glücksgefühl eines bewahrten Geheimnisses zurück, verstärkt durch die mysteriösen Klanglandschaften der Kompositionen von Fennesz, die manchmal allein erklingen, sich manchmal mit Originaltönen mischen und manchmal ganz hinter diese zurücktreten – was bemerkbar ist, aber wieder vergessen wird im Fluss der Meeresbilder, so wie sich die verschiedenen Impressionen zu etwas addieren, ohne eine Summe zu bilden.
Am Ende zeigt Neuwirth wieder die Wellen, wie sie an den Strand ziehen. Jetzt bei Nacht – was angesichts eines Films mit so viel Lichtspielen eine besondere Wirkung erzielt. Kaum mehr, aber doch noch wahrnehmbar sind die weißen Gischtkämme in der Finsternis (eine Art „Tagesverlauf“ von Morgen zu Abend scheint die einzige streng strukturierende Größe des Films). Aber auch wenn es sich schließlich dem Blick zu entziehen scheint, erzählt das Meer unaufhörlich weiter. Und zwar nur vom Meer.
Sein unendliches Rauschen liegt über dem Abspann, aber es fühlt sich nicht an wie ein Ende. Es bleibt die Gewissheit des Neubeginns. Eines unendlichen Wandels, der mit dem Sonnenaufgang wieder sichtbar wird. „Unaufhörlich das Meer, das am gelassenen Morgen den unendlichen Sand zerfurcht.“
Christoph Huber