L & W (Lava & Water) #05 |
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Puls, Riss und Gischt.
Zu Manfred Neuwirths Island-Arbeiten.
Es geht um einfache Dinge in Manfred Neuwirths aktuellen Arbeiten – um Wasser und schwarzen Sand, um die Ausläufer des Meeres, um das sanfte Dröhnen des Windes und das Rauschen der Wellen, irgendwo in der isländischen Einsamkeit. Hier wird etwas beschworen, für das es keinen Menschen braucht (und nie gebraucht hat), eine Art Naturtheater, das seit Jahrmilliarden existiert: die gegenläufigen, einander auch überlappenden Bewegungen der vordringenden Gischt und jenes Sogs, der das Wasser wieder einfordert, es zurückfließen lässt vom Strand in den größeren Zusammenhang des Nordatlantiks.
Neuwirth nimmt den Puls des Meeres an einem jeweils ganz genau bestimmten Ort, in vierfacher Verlangsamung, zeigt den ewigen Kreislauf aus Flutung und Rückfluss, gefolgt von der Wiederankunft des Wassers und seiner neuerlichen Umkehr: Aufruhr und Entspannung in Endlosschleife. Das digitale Bild ist hochformatig, ein um 90 Grad gekipptes Breitwandszenario. Auf diesem Bildschirm schlägt das Meer nicht mehr von links nach rechts, sondern von oben nach unten an Land; so entsteht der Eindruck des künstlichen Abrinnens Richtung Bildunterkante, und dies geschieht nicht nur immer neu, sondern naturgemäß auch jedes Mal anders, nicht-systematisch, aleatorisch. Im Rückzug reißt der Strom nach oben auf, dünnt jäh aus, bildet unvermutet Lücken. Das Bewegtbild der Videoinstallation findet seine Entsprechung in einer flankierenden Fotoserie, die das ozeanische Wirken in Standbildern einfriert, deren Addition, als gleichsam „gelesene“ Abfolge von minimalen Zeitschritten und -schnitten, erst die Illusion einer Bewegung erzeugt.
Die hier entstandenen Bilder wurden geduldig gesucht und erwartet, anschließend gedreht und fotografiert in den Sommern der Jahre 2014 und 2015 an den Stränden von Reynisfjara und Kirkjufjara im äußersten Süden des Inselstaats. Die Szenen sind zwischen sanfte Auf- und Abblenden, in Surround-Sound gesetzt, und sie feiern, in elementarer Entfärbung, die unzähligen Schattierungen des aufleuchtenden Weiß jenes milchig-schaumigen, glitzernden Luft-Wasser-Gemisches. Manfred Neuwirths angestammte Methode – die radikale Reduktion von Narration und Bildinhalten bei zugleich sprunghafter Erhöhung der sinnlichen Wirkung – bewährt sich an diesem Sujet: Man schärft die eigene Wahrnehmung, erlebt die Schönheit zahlloser Details, aus denen ein alltägliches, scheinbar insignifikantes Naturereignis eben besteht, und freut sich über den Umstand, dass einem Hören und Sehen angesichts solch verdichteter Momente gerade nicht vergehen. Der paradoxe Gewinn ästhetischen Reichtums aus der „Armut“ des Schlichten, Spartanischen ist auf die Genauigkeit des Blicks zurückzuführen. Die bildlich-formale Meisterschaft ist Neuwirth ebenso wenig abzusprechen wie dramaturgische Raffinesse: Der erhabene Moment des (von der vorrückenden Gischt am Ende nur knapp erreichten) vollständigen Ausfüllens der Leinwand mit sprudelndem Flutwasser stellt den Höhepunkt dieses exakt an der Schnittstelle von Gegenständlichkeit und Abstraktion positionierten Unterfangens dar. Dennoch ist es ein fast kindlicher Blick, der diese Arbeiten erfüllt, ein konzentriertes Hinsehen ohne den mühevollen Umweg über die Hermeneutik; man muss diese Bilder und Töne nicht „interpretieren“, um sie (wenigstens aus der Distanz) begreifen zu können.
Es geht um ganz einfache Dinge in Neuwirths Werken – und um die rätselhafte Formenvielfalt, die unendlichen Komplikationen, die diese Einfachheit birgt.
Stefan Grissemann