Vom Leben Lieben Sterben - |
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Schon einmal haben Ernst, Brigitte, Wolfgang und Irene vor der Kamera über Aids gesprochen. Das war 1993, die Diagnose kam einem Todesurteil gleich und die erworbene Immunschwächekrankheit war als Thema allgegenwärtig, für kurze Zeit sogar für Hollywood lukrativ. Heute freilich, darin sind die vier Interviewten von damals sich einig, wird leider oft schon wieder getan, als hätte es Aids nie gegeben.
„20 Jahre später” nehmen Walter Hiller und Manfred Neuwirth nun das Gespräch mit den einstigen Protagonisten erneut auf. Man begegnet einander auf Augenhöhe, die Kamera zeigt ihr Vis-à-vis gleichbleibend in Großaufnahme. Es gibt keine Musik, keine Füllbilder, keine Zwischenschnitte; auch der Bildausschnitt bleibt immer derselbe. Hier geht es nicht um äußerliche Bewegung, sondern um die innere Bewegung - der Zuhörerin, des Zuschauers. Nichts soll von den thematisch zu sechs Kapiteln gruppierten Erzählungen ablenken: Damals und heute - Zwanzig Jahre - Partnerschaft und Sex - Alltag Aids - Persönliches - Ausblick.
Man mag diese schnörkellose Form der filmischen Gestaltung höchst konzentriert oder schlicht äußerst gelassen finden, in jedem Fall entspricht sie ganz den vier Menschen, die nach 20 Jahren einmal mehr über ihre Erfahrungen mit Aids sprechen. Aus ihrer individuellen Lebenspraxis heraus haben sie direkt oder indirekt schon lang mit der Krankheit zu tun.
Brigitte musste sich aus der freiwilligen Krankenbetreuung zurückziehen, ein paar Freunde aber betreut sie weiterhin. Ernst hat seinen Lebenspartner verloren. Irene macht die Sorglosigkeit vor allem der Jungen schwer zu schaffen. Wolfgang ist mittlerweile 66 und seit ein paar Jahren auch selbst HIV-positiv.
Wie im Biedermeier die Syphilis, analysiert Ernst, wird Aids von der Gesellschaft heute beschwiegen. Nach wie vor gilt die Krankheit als Makel, ist mit einem Tabu behaftet. Hätte sie Aids, meint Irene, würde sie es ihrem Arbeitgeber gewiss nicht mitteilen. Für direkt Betroffene bedeutet die Krankheit nach wie vor Ausgrenzung, Isolation, Liebesentzug. Er habe mit vielen Leuten gebrochen, sagt Wolfgang, sich aber ein paar Haustiere angeschafft und das Absinken seiner Libido gegen Null als irrsinnige Befreiung empfunden. Wieso sich diese Krankheit von anderen dennoch unterscheidet? Aids kann man verhindern, bringt Brigitte die Sache auf den Punkt, Krebs nicht.
Umso schlimmer, dass unter jungen Leuten die Zahl der HIV-Infektionen tendenziell wieder zunimmt. Ganz zu schweigen von den epidemischen Ausmaßen, welche die Krankheit in den afrikanischen Staaten bereits angenommen hat. In der westlichen Welt kann man heute gut mit ihr leben. Aids hat sich von einer tödlichen in eine chronische Krankheit wie Diabetes verwandelt und vieles von ihrem Schrecken verloren.
Nicht zuletzt deshalb ist „Vom Lieben Leben Sterben” auch „20 Jahre später” wieder kein nur tagesaktuell brisanter, sondern ein ganz außergewöhnlicher Film geworden.
Michael Omasta