Tibet Revisited |
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Für das Werk Manfred Neuwirths besitzt das Mitte der 90er Jahre realisierte Reisejournal Tibetische Erinnerungen einen zentralen Stellenwert: Zum einen bildet der Film den ersten Teil einer Trilogie, die Neuwirth international bekannt gemacht hat, und mit der er in gewisser Weise die Ästhetik seiner filmischen Arbeit neu definierte (mit Teil 2 und 3 der Trilogie, manga train,1998, und magic hour, 1999, konsequent weiterentwickelt); zum anderen waren die „kinematografischen Erinnerungen“ Resultat einer langjährigen, persönlichen Auseinandersetzung mit den Menschen und der Kultur Tibets, die Neuwirths Selbstverständnis als Filmemacher, und damit seinen Blick auf die Welt, wohl grundsätzlich geprägt hat.
Zehn Jahre nach Tibetische Erinnerungen, im Sommer 2004, kehrt Neuwirth ein weiteres Mal mit seiner Kamera nach Tibet zurück. Er ist in Lhasa und Umgebung unterwegs und bleibt seiner Methode des „filmenden Flaneurs“ treu: Tibet Revisited zeigt 28 ausgewählte Szenen, jede mit statischer Kamera aufgezeichnet, jedes einzelne „Bild“ eine mehrminütige „Erzählung“ für sich. Die 28 Ansichten (in Breitwand-Format und Surround Sound) bilden ein offenes Kaleidoskop des tibetischen Alltags, in denen das Gezeigte stets als Dokument persönlicher Begegnung deutlich wird.
Der Titel Tibet Revisited lässt dabei mehrere Deutungen zu: er bezieht sich offensichtlich auf Neuwirths ersten filmischen Tibet-Besuch; er macht die Konfrontation zwischen der radikal subjektiven Verfahrensweise und der großen Chiffre „Tibet“ deutlich; und er verweist auf das Moment der Selbstreflexion als zentrale Qualität des dokumentarischen Kinos. Wie das Gesamtwerk Neuwirths selbst, mäandert auch Tibet Revisited in wunderbar freier Weise zwischen dokumentarischem und experimentellem Kino und dem Feld der Neuen Medien (die 28 Szenen kann man sich leicht auch als never ending-Raum-Installation vorstellen).
Das Spektrum des Gezeigten ist reichhaltig in Tibet Revisited: es spannt sich von zahlreichen Szenen, die thematisch um Handel und Handwerk kreisen (in einer Werkstatt werden kunstfertig Schmuckstücke hergestellt; urbanes Leben spiegelt sich im Schaufenster eines Warenhauses), Freizeitaktivitäten (ein Würfelspiel, eine Tanzveranstaltung) und religiöse Rituale (betende Frauen vor dem ehemaligen Palast des Dalai Lama, ein Rauchopfer, Mönche in ihrer spirituellen Praxis) bis zu Bildern purer kinematografischer Bewegung (eine „archaisch“ anmutende, Getreide mahlende Drehscheibe; das Fließen des Wassers).
Neuwirths Montage betont, deutlicher noch als in Tibetische Erinnerungen, den Konflikt zwischen traditionell geprägten Lebensformen und der offensichtlich einbrechenden Moderne in Tibet (sei es durch die chinesische Okkupation; sei es durch die Präsenz der globalisierten Warenwelt). In systematischer Weise, mittels alternierender Szenen, bildet die Struktur des Films diesen Konflikt ab: der Ansicht einer Frau, die in Trance ein Lied singt, geht das kuriose Bild einer auf der Straße stehenden, vibrierenden Lautsprecherbox voraus; den Szenen eines traditionellen Festes folgt der Blick auf die Belegschaft einer chinesischen Firma, die lustlos ihre vorgeschriebenen Gymnastikübungen vollführt.
Wie in seiner Trilogie besitzt auch in Tibet Revisited der Ton eine wesentliche Bedeutung (auch die rhythmische Struktur des Films orientiert sich daran): Der innere Kern der Bilder ist zumeist erst über die reichhaltige Tonspur erfahrbar (viele Erzählschichten finden außerhalb des Blickrahmens statt) und in nahezu jeder Szene ist Musik in unterschiedlichster Form zu hören. Neuwirths filmische Ethnographie ist vielleicht noch mehr akustischer als visueller Natur: Dem konsequent reduzierten, statischen Bild steht ein grandioses Klangspektrum aus unterschiedlichstem Musiksound, Lauten und Geräuschen entgegen, das, im Sinne Paradshanovs hilft, mit „Leidenschaft in einem statischen Bild Dynamik aufzubauen“. Tibet Revisited ist ein grandioses Alltags-Panorama: eine Lektion in Sachen filmischer Konzentration.
Constantin Wulff