Tibetische Erinnerungen |
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Im Tibetischen stehen die folgenden 4 Worte für den Begriff Fernsehgerät: Form, Sehen, Atmosphäre, übertragen. Diese schöne Umschreibung möchte ich als Leitmotiv über meine Arbeit stellen. Während meiner Tibetaufenthalte in den Jahren 1988 bis 1995 ist dieses Notizbuch entstanden. Wenn ich mit einigen Begriffen diese Produktion charakterisieren sollte, dann würde ich folgende Begriffe wählen: Alltägliches, das unglaubliche Licht, die Freude am Gewöhnlichen, der zweite Blick, die Liebe zum Detail, Erinnerungen.
Manfred Neuwirth
Von Beginn der Filmgeschichte an ist das Bildermachen mit dem Reisen verbunden. Die Neugier am Fremden, der Reiz des Exotischen und die Lust am Unbekannten sind für das Kino im weiten Spektrum von ethnographischer Studie, persönlichem Reisedokument bis hin zum großen Abenteuer-Spektakel bis heute Wesensmerkmale geblieben: das Bilder-Medium als stete Expedition.
Manfred Neuwirths filmisches Reisejournal TIBETISCHE ERINNERUNGEN ist eine sehr private Variante, das Ferne in Form von Bildern und Tönen zu dokumentieren. Während mehrerer längerer Aufenthalte in Tibet in den Jahren 1988 bis 1995 hat Neuwirth, mehr zufällig als geplant, ein Bildmaterial zusammengetragen, das Spektakuläres und allzu Offensichtliches meidet. Die Bildersammlung konzentriert sich stattdessen auf Alltägliches, scheinbar nebensächliches: auf Plakatwände, Teekessel und Wasserpumpen, auf Glücksbringer und Gebetsfahnen, auf Stimmen, Gesichter und Blicke.
Die scheinbar losen Reise-Impressionen aus Tibet sind allerdings streng strukturiert und bearbeitet: jedes der 35 ausgesuchten Bilder besitzt die idente Länge; alle Ansichten sind sichtbar verlangsamt, rhythmisiert. Wie einzelne Photographien steht jedes Bild für sich: es werden keine Abläufe durch Montagen gebildet: wie in einem Album blättert man sich von einer Einstellung zur anderen, ohne daß sich ein „Sinn” der Abfolge aufdrängen würde. Keine Chronologie, keine Erzählung, keine Themenbebilderung. Dem aufmerksamen Betrachter wird allerdings nicht entgehen, dass die strenge Auswahl der Bilder sich größtenteils um ein Motiv gruppiert, das man den „kulturellen Wandel” des Landes nennen könnte. Bereits der wuchtige Auftakt, der vor der Bilderfolge stehende „Prolog”, macht dies deutlich: chinesische Soldaten nehmen gewaltsam tibetische Mönche fest. Was sich seit einigen Jahren als „Bild” Tibets in den Medien verfestigt hat - die systematische Unterdrückung der tibetischen Kultur durch die Besatzungsmacht China - wird von Neuwirth als singuläres Imago vorangestellt, das allem Folgendem wie ein Grundton unterlegt ist. Die Fahrten durch öde Neubauschluchten (vornehmlich in Shigatse und Lhasa) bleiben so nicht bloße Ansichten aus fahrenden Autos heraus, sondern werden zu Zeugen einer radikalen urbanen Zerstörung; die Plakatwände sind nicht nur pittoreske grafische Ereignisse, sondern lassen die Banalität der chinesischen Propaganda erkennen; eine Schlagerschnulze im Fernsehen, gesungen von einer uniformierten Schönheit wird so zum Symbol kultureller Hegemonie.
In dieser seltsamen Mischung eines gleichzeitigen Einbruchs von Moderne und Propaganda registrieren die TIBETISCHEN ERINNERUNGEN allerdings eine erstaunliche Zähigkeit der Tradition. Wie eine hartnäckige Gegenwelt mischen sich religiöse Insignien, traditionelle Rituale und Bilder alter Handwerke in den Bilderfluss des Alltäglichen: die allgegenwärtigen Glücksbringer; die wohlbekannten sakralen Schriften; das rituelle Memorieren von Gebeten. In der Verlangsamung der Bildbewegung, die weniger das Zeitlupenaufnahmen immanente Pathos betont, sondern die offene Konzentration auf den Bildinhalt fördert, wird dieser Widerstand gleichsam ins filmische Material aufgenommen: die Zeit wird angehalten, um dem Blick mehr Raum zu geben.
Vielleicht auch deshalb die Melancholie, die Neuwirths TIBETISCHEN ERINNERUNGEN zu eigen ist: Am Ende der Reise steht jedenfalls ein Abschied: die Fahrt hinaus aufs Land, abends, der Blick zum Horizont. Irgendwo über der Welt.
Constantin Wulff